2024-01-31T11:44:39+0000

Schadenrecht: „Versicherer versuchen, Entscheidungen des BGH in ihrem Sinne auszulegen“

Aus schadenrechtlicher Sicht hat das neue Jahr mit einem Paukenschlag begonnen. Denn am 16. Januar hat der Bundesgerichtshof seine Entscheidung zum Werkstattrisiko gleich in fünf Revisionsurteilen präzisiert – und schafft damit nicht nur Klarheit, sondern definiert die Spielregeln laut Rechtsexperten teilweise auch neu. Umso wichtiger ist es für Werkstätten, über die aktuellen Entscheidungen informiert zu sein. Aus diesem Grund veranstaltete die Kanzlei Voigt eine Woche nach der Urteilsverkündung ein Sonderwebinar zum Thema. Das Interesse war erwartungsgemäß groß, über 630 Teilnehmerinnen und Teilnehmer – überwiegend Werkstätten – folgten den Ausführungen von Geschäftsführer Henning Hamann. ## VI ZR 253/22 – Auch tatsächlich nicht ausgeführte Arbeiten fallen unter Werkstattrisiko Der Rechtsanwalt vergegenwärtigte zu Beginn noch einmal die 1974 gefällte Entscheidung des Bundesgerichtshofes zum subjektiven Schadenbegriff und verwies im Anschluss auf das BGH-Urteil vom 26. April 2022. Dieses hat aufgrund der Formulierung „… solange die Reparatur tatsächlich durchgeführt wurde …“ für viel Verunsicherung gesorgt. Denn basierend auf diesem Urteil begannen Kfz-Versicherer, die Durchführung von Reparaturarbeiten zu bestreiten und verweigerten die Zahlung. Teils mit Erfolg. Eben diesem Vorgehen hat der BGH mit seiner Revisionsentscheidung (VI ZR 253/22) nun endgültig einen Riegel vorgeschoben. „Der BGH hat klargestellt, dass das Werkstattrisiko auch für nicht durchgeführte Rechnungspositionen gilt, sofern diese für Geschädigte nicht erkennbar sind“, erklärt Henning Hamann. So heißt es in der vom BGH herausgegebenen Pressemitteilung vom 16. Januar wörtlich: „Ersatzfähig im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger sind vielmehr auch diejenigen Rechnungspositionen, die sich auf – für den Geschädigten nicht erkennbar – tatsächlich nicht durchgeführte einzelne Reparaturschritte und -maßnahmen beziehen.“ Zudem verdeutlichte der BGH erneut, dass es im Schadenersatzprozess nicht auf die objektive Erforderlichkeit der in Rechnung gestellten Reparaturkosten ankommt. „Das predigen wir schon seit Jahren. Der Schädiger hat es zu verantworten, dass der Geschädigte in dieser Situation ist und deswegen trägt auch ausschließlich der Schädiger das Werkstattrisiko, selbst wenn die Werkstatt unwirtschaftlich repariert oder nicht durchgeführte Arbeiten in Rechnung stellt“, fasste Henning Hamann noch einmal zusammen. Insofern darf es künftig auch keine Beweisaufnahmen mehr geben. Frühere Gerichtsurteile, die nach dem Urteil aus 2022 zugunsten der Kfz-Versicherer wegen bestrittener nicht durchgeführter Reparaturarbeiten gefällt wurden, seien schlicht Fehlurteile und hätten gemäß Henning Hamann „nicht ergehen dürfen“. ## VI ZR 51/23 – Schadensservice aus einer Hand ist unproblematisch Im zweiten Sachverhalt, den der BGH zu verhandeln hatte, hat ein Versicherer die Vermittlung eines Sachverständigen durch die reparierende Werkstatt beanstandet. Aus
Sicht des Kfz-Versicherers sei das dann ein Fall des Auswahlverschuldens mit der Folge, dass sich der Geschädigte nicht mehr auf das Schadengutachten verlassen dürfe. Doch der BGH macht in seiner Entscheidung deutlich, dass er diese sogenannten Schadensservices aus einer Hand keinesfalls für anrüchig hält. Im Gegenteil: „Aber auch wenn der Geschädigte ein Sachverständigengutachten einholt und die Auswahl des Sachverständigen der Werkstatt überlässt, führt allein dies nicht zur Annahme eines Auswahl- oder Überwachungsverschuldens“, heißt es in der BGH-Pressemeldung vom 16. Januar. Henning Hamann konkretisierte: „Der seit Jahren von den Versicherern erhobene Vorwurf, es habe ein ‚Geschmäckle‘, wenn die Werkstatt den Sachverständigen für den Geschädigten auswählt, ist vollkommen unzutreffend.“ ## VI ZR 266/22 – Bei noch nicht bezahlter Rechnung Klageanträge umstellen Im dritten Fall klagte ein Geschädigter den noch ausstehenden Restbetrag der gekürzten Reparaturkosten ein, hatte die Rechnung selbst aber noch nicht bei der Werkstatt beglichen. Der Bundesgerichtshof sah in diesem Zusammenhang folgende Problematik: Der Geschädigte könnte sich durch den Schadenersatz des eintrittspflichten Versicherers bereichern, sofern er nicht den vollen Rechnungsbetrag an die reparierende Werkstatt weiterleitet. „Aus diesem Grund kann der Geschädigte, der sich auf das Werkstattrisiko beruft, aber die Rechnung der Werkstatt noch nicht (vollständig) bezahlt hat, von dem Schädiger Zahlung des von der Werkstatt in Rechnung gestelltes (Rest-)Honorars nur an die Werkstatt und nicht an sich selbst verlangen […] Wählt der Geschädigte bei unbezahlter Rechnung hingegen Zahlung an sich selbst, so trägt er und nicht der Schädiger das Werkstattrisiko“, heißt es klar und deutlich in der BGH-Meldung. Und das zieht Konsequenzen für laufende Gerichtsverfahren nach sich, wie Henning Hamann betonte: „Ganz wichtig: Alle laufenden Klagen bei noch nicht bezahlter Rechnung müssen schnellstmöglich prozessual so umgestellt werden, dass die Zahlung an die Werkstatt und nicht an den Geschädigten verlangt wird.“ ## VI ZR 38/22 und VI ZR 239/22 – Klagen aus abgetretenem Recht unterliegen Beweispflicht Nicht zuletzt beschäftigte sich der BGH zudem noch mit zwei Revisionsklagen, bei denen die Werkstatt aus abgetretenem Recht klagte. In beiden Fällen bestätigte der Bundesgerichtshof, dass sich Werkstätten bei Klagen aus abgetretenem Recht nicht auf das Werkstattrisiko berufen können. Heißt konkret: Die Werkstätten stehen bei solchen Klagen in der Pflicht, die Erforderlichkeit der Reparaturarbeiten vollständig zu beweisen. Und zwar nicht nur, dass diese tatsächlich erforderlich waren und durchgeführt wurden, sondern auch, dass diese nicht überhöht angesetzt wurden. „Um es auf den Punkt zu bringen: Lassen Sie die Finger von Klagen aus abgetretenem Recht, denn das damit verbundene Kostenrisiko ist viel zu hoch“, appellierte Henning Hamann an alle Zuhörenden. ## Wie reagieren die Kfz-Versicherer jetzt? Abschließend fasst der Kanzlei Voigt-Geschäftsführer noch einmal zusammen: „Das Werkstattrisiko ist als scharfes Schwert zu Gunsten des Geschädigten noch einmal deutlich gestärkt worden. Und sofern der Schädiger das Werkstattrisiko trägt, verbietet sich künftig eine Beweisaufnahme über die objektive Erforderlichkeit. Das ist ganz wichtig.“ Mit Verweis auf das[ Interview von HUK-Vorstandschef Klaus-Jürgen Heitmann](https://schaden.news/de/article/link/43834/huk-coburg-verliert-kunden-und-kaempft-mit-extremen-schadenkosten) und die hohen Verluste, die alle Kfz-Versicherer im letzten Jahr eingefahren haben, warnt Henning Hamann jedoch: „Was werden die Versicherer machen, wenn sie die Einnahmen durch Prämienerhöhungen nicht mehr weiter signifikant erhöhen können? Dann müssen die Ausgaben reduziert werden und das funktioniert weiterhin über Rechnungskürzungen.“ Der Kanzlei-Chef zeigte mehrere aktuelle Schreiben aus Coburg, die sich nur wenige Tage nach Veröffentlichung der Pressemeldung Bundesgerichtshofes auf die Revisionsentscheidungen vom 16. Januar beziehen. Zwar sei die Argumentation der HUK-Coburg in den ersten gezeigten Beispielen schlicht falsch, dennoch, so betont Henning Hamann: „Die Urteile sind noch nicht veröffentlicht, es gibt aktuell nur die Pressemitteilung. Dennoch versuchen die Versicherer jetzt schon, diese Entscheidungen des BGH in ihrem Sinne zu miss-interpretieren und ich weiß nicht, wie viele Werkstätten am Ende darauf reinfallen.“
Lesens Wert

Mehr zum Thema