2023-11-15T12:44:04+0000

Web-TV: „Versicherer und Betriebe sollten mit Augenmaß und wechselseitigem Verständnis agieren“

Die Lage im Unfallschadenmarkt spitzt sich zu. Sowohl Kfz-Versicherern als auch K&L-Betrieben laufen die Kosten davon. Während die Werkstätten jedoch über nicht auskömmliche Konditionen klagen, sprechen die Versicherer von überhöhten Stundensätzen. Doch wie lässt sich dieses Dilemma lösen? Darüber diskutierte die Talkrunde beim Schadentalk im Web-TV vergangene Woche, der für seine siebte Ausgabe in diesem Jahr zu Gast in der Zentrale der LVM Versicherung in Münster war. Mit dabei waren Michael Messmann (Bereichsleiter Werkstattsteuerung LVM), Rainer Ohlenhard (operativer Geschäftsführer IRS Group), Jürgen Schmidt (Vorstandsvorsitzender Riparo) und Ingo Blöink (Deutschland-Chef Solera Audatex AUTOonline). ## Lage der Versicherungswirtschaft Wie heikel die aktuelle Marktsituation aus Sicht der Versicherungsbranche ist, zeigte Heinz Gressel vor Beginn der Sendung im Gespräch mit Moderator Christian Simmert auf. „Wir werden knapp 3 Milliarden Euro Marktverlust hinnehmen müssen, bei 30 Milliarden Euro Umsatz“, betonte der Vorstand für den Komposit-Bereich bei der LVM Versicherung, der als Vorsitzender des GDV-Ausschusses Kraftfahrt einen guten Überblick über die Branche hat. Vor allem die hohe Schadenhäufigkeit im Kaskobereich sowie eine „exorbitante Entwicklung“ der Schadendurchschnittskosten belasten die Versicherer. Diese Kostensteigerungen seien aus seiner Sicht nicht allein mit steigenden Ersatzteilkosten und der Inflation zu erklären: „Wir haben teilweise Stundensätze im Karosseriebau von über 300 Euro, das macht große Probleme.“ ## „In Wahrheit ist es so, dass wir zu wenig Geld für unsere Arbeit bekommen“ Dass auch die Werkstätten mit den Kostensteigerungen in allen Bereichen zu kämpfen haben, ist kein Geheimnis. Rainer Ohlenhard, operativer Geschäftsführer bei der IRS Group, kennt die Probleme der insgesamt 60 Niederlassungen der Werkstattgruppe und verdeutlichte: „Wir sprechen hier nicht nur über Energiekosten. Sondern zum Beispiel auch über Mieten oder Kosten für IT-Sicherheit und -Hardware. Unsere Kosten wachsen stärker, als unsere Einnahmen. Deshalb arbeiten wir auf verschiedenen Ebenen an der Profitabilität, das ist aber nur ein Hebel. In Wahrheit ist es so, dass wir zu wenig Geld für unsere Arbeit bekommen“. Das betreffe im Wesentlichen gesteuerte Schäden. „Es geht um die Konditionen, wir haben auch gesteuertes Geschäft, was sehr profitabel ist.“ Insgesamt seien aber die Konditionen bei vielen Kunden nicht mehr auskömmlich, was vor allem an gestiegenen Prozesskosten liege. Als konkrete Beispiele nannte Rainer Ohlenhard die Abwicklungszeit, kostenlose Hol- und Bring-Services sowie kostenfreie Werkstattersatzwagen. „Wir haben in der Gruppe etwa 1.000 Werkstattersatzwagen. Wie viel Zeit wir allein investieren, um die Verkehrsvergehen der Kunden zu verfolgen – das ist fast eine ganze Stelle, die wir damit besetzen. Das sind Aufwände, über die niemand
spricht. Aber in der Summe kommen da Kosten zusammen, die mit der Vergütung nicht mehr zusammenpassen.“ Innerhalb der IRS Gruppe achte man deshalb verstärkt auf den „richtigen“ Kundenmix. Per se Reparaturkapazitäten zu streichen, weil die Konditionen nicht passen, davon hält Rainer Ohlenhard aber nichts. Stattdessen setze die Werkstattgruppe auf Transparenz und Gespräche mit den Auftraggebern. ## Rasant steigende Kosten Eine Strategie, die auch die LVM Versicherung verfolgt, die seit jeher ohne Werkstattbindungstarif im Markt unterwegs ist und auf die freiwillige Empfehlung der regionalen Versicherungsagenturen setzt. „Unser Anliegen ist, fair unterwegs zu sein“, betonte Michael Messmann im Branchentalk auf die Frage nach Verhandlungsgesprächen rund um den Stundensatz. Der Bereichsleiter Werkstattsteuerung kenne die Nöte der Werkstätten, müsse bei den Gesprächen aber auch das Budget und das Schadenvolumen der LVM Versicherung im Blick behalten. „Unser Ziel ist es, mit Augenmaß und wechselseitigem Verständnis am Markt unterwegs zu sein. Und bisher ist uns das sehr gut gelungen.“ Er beobachtet aber auch die von Heinz Gressel angesprochene Entwicklung extrem steigender Stundensätze: „Stundenverrechnungssätze von über 300 Euro sind inzwischen keine Seltenheit und dieses interessante Thema E-Mobilität machen wir noch dadurch kaputt, dass ausgerechnet der Stundensatz nochmal fünf Euro mehr pro Arbeitswert kostet, also im Ergebnis 360 Euro. Da sind – meine ich – Grenzen erreicht und da fehlt mir das gesunde Augenmaß.“ Ein Problem, dass auch Jürgen Schmidt vom Schadensteuerer Riparo bestätigte: „Was in markengebundenen Werkstätten an Preisen für die Reparatur von E-Fahrzeugen aufgerufen wird, ist irre und meines Erachtens auch mit gar nichts zu rechtfertigen.“ Unabhängig davon hätten sich die durchschnittlichen Reparaturkosten auch bei Riparo um 300 Euro erhöht, was jedoch nicht ausschließlich auf höhere Stundenverrechnungssätze zurückgeführt werden könne. „Es sollte keiner den Fehler machen und sagen, dass die Werkstätten jetzt mal richtig abgreifen“, betonte der Geschäftsführer. Denn einen großen Anteil an den Kostensteigerungen tragen auch die erneut gestiegenen Ersatzteilpreise[ (schaden.news berichtete)](https://schaden.news/de/article/link/43664/ersatzteilkosten-steigen-erneut-deutlich-an) – und zwar auch im Kleinteile-Bereich. So erklärte Ingo Blöink, Deutschland-Chef und Managing Director International von Solera Audatex AUTOonline: „Wir haben speziell in diesem Jahr seit Juli erhebliche Steigerungen für Kleinteile von teilweise bis zu 80 Prozent festgestellt, bei der Sensorik sind es zwischen 20 bis 25 Prozent seit Juli.“ ## Prozesschaos wird wohl auch in Zukunft nicht lösbar Parallel zu der Kostensituation belastet die Werkstätten aber vor allem der weiterhin hohe administrative Aufwand in der Schadenregulierung. „Jeder Kunde hat seine eigenen Prozesse, bei einem wird die Rechnung per Mail versendet, bei dem anderen ins Portal hochgeladen“, brachte Rainer Ohlenhard das Problem auf den Punkt. Das führe zu einem hohen
Aufwand und sei zudem fehleranfällig. „Ich würde mir wünschen, dass wir eine Harmonisierung dieser Prozesskette finden“, appellierte der Werkstattnetz-Chef in Richtung der Kfz-Versicherer und Schadensteuerer. Michael Messmann bezweifelte, dass „es gelingen wird, das auf einen Nenner zu bringen“, da jeder Kfz-Versicherer die Daten anders verarbeite. Generell sprach sich der Bereichsleiter Werkstattsteuerung aber für Vereinheitlichungen aus. Diese sei aus Sicht von Jürgen Schmidt und Ingo Blöink zwar prinzipiell technisch möglich, scheitere jedoch an der Wettbewerbssituation im Markt, die zudem immer größer wird. Der Deutschland-Chef von Audatex AUTOonline, Ingo Blöink, sieht die Lösung stattdessen in strukturierten Datensätzen: „Strukturierte Daten sind der Dreh- und Angelpunkt, egal wie die Prozesse dahinter laufen und die werden immer individuell laufen.“ ## Ist eine Reparaturflatrate in Deutschland denkbar? Mit Blick auf den umfangreichen und teils komplizierten Prozess rund um Auftragsannahme, Kalkulation, Reparaturfreigabe, Reparaturerweiterung und Rechnungsprüfung brachte Rainer Ohlenhard von der IRS Group einen Ansatz aus Großbritannien in die Talkrunde ein. In England arbeitet die Werkstattgruppe demnach mit einer Reparaturflatrate, bei der jeder Schaden den gleichen Betrag erhalte. Die Kalkulation erfolge erst nach der Reparatur anhand von Bilddokumentationen. Moderator Christian Simmert wollte in diesem Zusammenhang wissen, ob eine derartige Flatrate auch für Riparo denkbar wäre. Rechnerisch ließe sich diese durchaus kalkulieren und abgestuft nach der Schadenhöhe mache diese vielleicht auch Sinn, dennoch könne sich der Riparo-Chef nicht vorstellen, beispielsweise komplett auf Kostenvoranschläge zu verzichten. Ingo Blöink hält ein anderes Vorgehen hingegen für sehr viel effektiver: Die automatische Überprüfung von Kalkulationen oder Kostenvoranschlägen anhand vorgegebener Algorithmen direkt im System. Das sei aus Sicht des Fachmanns sehr viel einfacher und technisch bereits jetzt möglich. Dadurch könnte die Übermittlung an Schadensteuerer oder Kfz-Versicherer entfallen, was für eine Effizienzsteigerung sorgen würde. Eine Maßnahme, die sich laut Moderator Christian Simmert vielleicht auch positiv auf die aktuell wieder zunehmenden Rechnungskürzungen auswirken könnte. Bei der LVM sei laut Michael Messmann ohnehin der mit der Werkstatt abgestimmte Wert im Kostenvoranschlag „das Maß der Dinge für die Schadenregulierung.“ Bei den Münsteranern gibt es laut dem Bereichsleiter Werkstattsteuerung nach freigegebener Kalkulation keine inhaltliche Prüfung der Rechnung mehr, sofern diese nicht von der Kalkulation abweicht. Zudem kündigte er an, den Prozess auf mögliche weitere Optimierungspotenziale zu überprüfen. ## Was tun gegen den Fachkräftemangel? Das dritte und vermutlich aktuell größte Problem, dem sich alle Marktbeteiligten gegenübersehen, ist der Fachkräftenotstand. „Wir würden sofort 100 weitere Mitarbeiter einstellen, wenn wir sie denn finden würden“, betonte Rainer Ohlenhard direkt zu Beginn der Sendung. Bei der Werkstattgruppe steht die Akquise neuer Fachkräfte ganz oben auf
der Agenda. Unter anderem hat IRS den Bewerbungsprozess vereinfacht, um Hemmschwellen abzubauen. Zudem ist das Unternehmen aktiv in der Nachwuchsakquise und rekrutiert sogar Fachkräfte aus dem Ausland, um offene Stellen zu besetzen. Kfz-Versicherer und Schadensteuerer stehen meist vor demselben Problem. Denn, wie Jürgen Schmidt erklärte, prüfen bei Riparo beispielsweise ausgebildete Karosseriebauer und Fahrzeuglackierer die Kostenvoranschläge. Und auch in puncto Sachverstand werden die Ressourcen immer knapper, wie Ingo Blöink betonte: „Die Branche steht vor einer ganz großen Herausforderung: Es gibt einfach nicht genug Sachverständige.“ Auch deshalb braucht es aus Sicht des Software-Experten in Zukunft digitale Unterstützung für Sachverständige. Doch wie lässt sich der Fachkräftenotstand lösen? Ein Patentrezept konnte die Talkrunde freilich nicht liefern, aber einig war man sich darin, dass es gemeinsamer Anstrengungen bedarf. IRS-Chef Rainer Ohlenhard formulierte den Wunsch nach einer konzertierten Aktion aller an der Branche Beteiligten im Kampf gegen den Fachkräftemangel. „Wir haben alle das gleiche Problem, deshalb müssen wir jetzt mal aufhören zu reden und anfangen, etwas dagegen zu tun.“ Die anderen Talkteilnehmer stimmten dem zu und betonten, dass die Berufsbilder im K&L-Bereich in der Öffentlichkeit stärker sichtbar werden müssten. Solange es jedoch an Fachkräften in den Werkstätten mangelt, um die Vielzahl der Aufträge abzuarbeiten, bleibt allen Beteiligten nichts anderes übrig, als die Prozesse möglichst schlank zu halten. Denn, das ist während des Branchentalks im Web-TV deutlich geworden, sowohl Werkstätten als auch Kfz-Versicherer und Schadensteuerer haben ein hohes Interesse an strukturierten und einfachen Prozessen. Dass es da noch Potenzial aber auch bereits technische Lösungen gibt, machte Ingo Blöink immer wieder deutlich. Fakt ist: In der aktuell schwierigen Marktsituation wären „Augenmaß und wechselseitiges Verständnis“, wie es Michael Messmann ansprach, ein guter Weg, um durch die momentanen Zeiten zu navigieren. Inwiefern das den Marktbeteiligten bei gleichzeitig wachsendem Wettbewerb gelingt, wird sich in Zukunft zeigen.
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